Deutschen mittelständischen Unternehmen wird häufig nachgesagt, dass die Entwicklungsteams veränderungsresistent sind und eine gewisse Technikverliebtheit haben. Stephan Lietz, Interim CTO mit breiter Erfahrung im Mittelstand, Sascha Hackstein, Geschäftsführer Berndtson Interim, und Markus Trost, Partner bei Odgers Berndtson, zeigen, wie die Produktentwicklung schneller und agiler wird und weshalb sich dem Mittelstand hier Chancen bieten.
Markus Trost: Der Shutdown hat den Mittelstand hart getroffen, doch in jeder Krise steckt eine Chance. Welche Chancen sollte der Mittelstand jetzt ergreifen?
Sascha Hackstein: Die internationalen Supply Chains sind an vielen Stellen gebrochen und müssen neu strukturiert werden. Die Unternehmen brauchen schnell neue zuverlässige und lieferfähige Partner. Die Unternehmen erwarten hier Agilität in der Zusammenarbeit bis hin zur gemeinsamen Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen. Der Mittelstand kann die nötige Kreativität und Flexibilität bieten, wenn es ihm gelingt, die Erfahrungen aus der Krise zu nutzen und mit neuen Denkweisen zu kombinieren.
Markus Trost: Was müssen Unternehmen Ihrer Meinung nach tun, um nach der COVID-19-Krise wieder erfolgreich Produktentwicklung zu betreiben?
Stephan Lietz: Social Distancing, betriebsinterne Corona-Regelungen, Kurzarbeit und die beeinträchtige Verfügbarkeit externer Partner machen die Produktentwicklung zu einer noch größeren Herausforderung. Insbesondere, da nach Abklingen der Krise auf den sich wieder erholenden Märkten ein größerer Konkurrenzdruck als bisher zu erwarten ist. Umso wichtiger ist es jetzt, die verfügbaren Ressourcen so effizient wie möglich einzusetzen.
In meinen Projekten versuchen wir häufig, die Ideen- und die Konzeptionsphase einer Produktentwicklung sehr eng miteinander zu verzahnen und nah an die realen Kundenbedürfnisse heranzuführen. Daraus ergibt sich für einen klar definierten Zeitraum eine iterative Vorgehensweise in kleinen, auf bestimmte Produkte konzentrierte interdisziplinäre Teams. Auch mittelständische Unternehmen können so schnell mit Hilfe von funktionalen Prototypen zu einem Minimum Viable Product kommen. Die entstandenen Prototypen kann man gut dafür nutzen, die kundenerlebbaren Features des Produkts zu testen. In diesen Bereichen gibt es in meinen Mandaten häufiger noch etwas Entwicklungsbedarf. Insbesondere das Zusammenspiel zwischen Produktmanagement, Marketing und dem Entwicklungsteam ist dabei wichtig. Marketing und Produktmanagement decken hier die Marktseite ab. Darüber hinaus muss in den Teams ein konstruktiver, sich gegenseitig positiv herausfordernder Dialog möglich sein.
Markus Trost: Auf welche Voraussetzungen stoßen Sie im Allgemeinen in mittelständischen Unternehmen?
Stephan Lietz: Oft finde ich ein motiviertes Team mit grundsätzlich gut qualifizierten Kandidaten. Ein häufiges Problem bei der Zusammenarbeit sind ungenügende Entscheidungsspielräume für die Entwicklungsteams sowie Kommunikationsschwierigkeiten in der mittleren Managementebene. Hier gibt es beispielsweise Probleme mit dem Alignment und auch mit unterschiedlichen, nicht transparenten Zielen.
Sascha Hackstein: Was bedeutet Alignment in diesem Zusammenhang?
Stephan Lietz: Damit meine ich vor allem, dass wichtige Informationen und Randbedingungen klar und einheitlich kommuniziert werden. Das betrifft die Kommunikation des mittleren Managements sowohl nach oben als auch nach unten.
Weiter ist zu klären, wer notwendige Entscheidungen trifft und warum, wer diese Entscheidungen und deren Umsetzung verantwortet. Hier finde ich häufig Problemfelder vor. Ich erlebe es öfter, das zum Beispiel bei Meetings nicht klar zwischen Informations- und Entscheidungsmeetings unterschieden wird. Diese Unklarheit führt häufig zu nicht fokussierten Diskussionen, letztlich zur Verschwendung von Zeit.
Markus Trost: Welche Voraussetzungen müssen Unternehmen schaffen, um mit maximaler Unterstützung der Entwicklungsabteilung und des CTO aus der Krise zu kommen?
Sascha Hackstein: Die Anforderungen an CTO oder Entwicklungsleiter haben sich im Mittelstand deutlich weiterentwickelt. Heute muss ein Kandidat auch entsprechende Dienstleistungen zu den Produkten entwickeln können. Er muss in Ökosystemen denken und zusammen mit anderen Partnern eine Gesamtlösung entwickeln können. Und er muss in der Lage sein, neue Geschäftsmodelle, beispielsweise datengetriebene Serviceleistungen, zu entwickeln. Zur Technologiekompetenz kommen also hohe strategische und wirtschaftliche Anforderungen hinzu. Unternehmen sollten darauf achten, dass diese Kompetenzen und Erfahrungen im Unternehmen vorhanden sind.
Stephan Lietz: Richtig, und auch die strategischen Rahmenbedingungen in der Entwicklung müssen stimmen. Einerseits müssen Produkte heutzutage auf Basis einer gut durchdachten Plattform-Strategie entstehen, so dass die Variantenbildung entsprechend einfacher wird. Andererseits ist die wachsende Bedeutung von Software in der Entwicklung häufig zwar erkannt, eine entsprechende Verzahnung von Hardware und Software ist jedoch in vielen Unternehmen noch verbesserungsbedürftig.
Markus Trost: Wie also kann die Entwicklungsabteilung das Wachstum des Unternehmens möglichst schnell befeuern?
Stephan Lietz: Wichtig ist es vor allem, die Bedürfnisse der Kunden und die entsprechenden Marktsegmente im Auge zu behalten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es in der Größe und den Anforderungen verschiedener Marktsegmente zu einem veränderten Verhalten nach der Corona-Krise kommen wird.
Worüber wir noch nicht gesprochen haben und was mir ebenso bedeutsam erscheint, ist das Minimieren von entsprechenden Risiken in der Entwicklung. Damit meine ich jetzt ausnahmsweise nicht das Thema Business- oder Entwicklungskontinuität, sondern ich meine Risiken, die mit dem Produktentwicklungsprozess selbst zu tun haben.
Bereits zum Start einer Produktentwicklung sollte ein Risiko-Assessment durchgeführt werden, das nicht nur die rein technischen Aspekte der Entwicklung abklopft, sondern auch die Randbedingungen betrachtet. So entstehen beispielsweise bei der Zusammenstellung eines neuen Teams oder bei der Verknüpfung des Entwicklungsprojekts mit dem erstmaligen Start von neuen Produktionsstandorten gewisse Risiken, die zumindest als Puffer eingeplant und kontinuierlich beobachtet werden müssen. Letztlich birgt alles, was neu und anders als beim letzten Mal ist, ein Risiko. Ist die Summe der allgemeinen und technischen Risiken zu groß, kann das Projekt nur scheitern. In diesem Fall empfiehlt sich eine vorgelagerte Risikominimierung durch Vorprojekte.